Rot für die Liebe, Rot für die Revolution

Ein Projekt-Essay von Jan · 2015

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So jung kommen wir nicht mehr zusammen. Das war 1996. Vielleicht auch ’97. So genau weiß ich das auch nicht mehr. Mein damaliger Freund Toffi und ich saßen auf der Treppe des Golden Pudel Clubs und warteten darauf, dass irgendetwas passiert. Auch sonst gab es nur cool oder uncool oder wie man sich fühlt. Blau-gelbe Puma Schuhe trug ich. Das wiederum weiß ich sicher.

Der Abend ist aussergewöhnlich mild dort unten am Hafen. Unter Wellblech trinken wir Bier. Später dann, als wir zurück zu meiner Schwester nach Harburg fahren, regnet es Hamburg-typische Bindfäden. 

Eine Spur aus Regenwasser bahnt sich langsam aber sicher einen Weg durch die Rillen meiner Cordhose. Wir gehen einen im Nachhinein betrachtet beachtlichen Umweg zur S-Bahn Haltestelle Reeperbahn. Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Der Rest ist verschwommen. 

Hamburg 2014. Man möge mir diese klaffende zeitliche Lücke verzeihen, aber die tut relativ wenig zur Sache. Von lauer Abend kann nicht die Rede sein. Draußen ist der Gefrierpunkt erreicht und es liegt schon wieder Schnee. Januar, Februar, März, April, Mai. Juni, Juli, August, September. Und gleich drei mal: Oktober. November. Dezember. Endjahresstimmung breitet sich im Büro aus und dieses Jahr scheint um. Rechner aufräumen. Unsortierte Dinge in Ordner umsortieren. Was man halt so macht. Die Luft ist raus und dann macht das Mail-Program doch noch mal Ping.

Bei »Rockband« rutscht mir mein Herz ein wenig in die Hose. David auch, aber eher aus Angst, weil er unter dieser Begrifflichkeit an die Toten Hosen denken muss. Ich erinnere mich an ein Cover auf der in Neongrüner Schrift »Kapitulation« steht, welches Precious 2007 gemacht hat.

Das war kurz vor dem Diplom an der Kunsthochschule. Im Gang hielt Ulla die Platte damals in den Händen und lobte die unprätentiös in die Ecke gedrückte Typografie. Fand ich auch gut und mir fällt wieder ein, dass es für mich persönlich gar keine größere (deutsche) Rockband als Tocotronic gibt. »Nich’ dein Ernst, Jan. Glaubst du wirklich? Das wäre ja so super, wenn wir das machen könnten.« Am nächsten Tag vereinbart Stephan, der Manager der Band, einen Termin mit Jan von Tocotronic mit und bei uns in der Budapester Straße in Hamburg.

»Jungs, guckt mal, Christophe von Precious hat uns geschrieben, ob wir uns vorstellen könnten.. « — »Ja, verrückt, lesen wir auch gerade. Aber wer soll das denn sein? Eine (große) deutsche Rockband?«Jan-Frederic Goltz, Atelier Disko

Es ist ein wenig unwirklich, wenn frühe Jugendhelden plötzlich an deiner Tür klingeln und bei einem Kaffee mit dir über das neue Album und die Überarbeitung ihrer Webseite sprechen. Es ist auch gerade deshalb ein wenig ungewöhnlich, weil unser Hamburger Büro in genau der Straße ansässig ist, in der die Tocotronic ihre ersten Konzerte gaben. Aber vielleicht soll das jetzt auch alles genau so sein. Ich muss grinsen, als sich Rico und Jan auf japanische Art und Weise Visitenkarten überreichen. Ein Archiv und Museum soll sie werden, die neue Seite. Ein Videothek und Musikbibliothek. Konzerte und Neuigkeiten und das anstehende (rote) Album ankündigen. Es passt, dass kurz nach der Veröffentlichung die Tocotronic Chroniken folgen, die auf über 20 Jahre Geschichte in einem großen Bildband zurückblickt. »Es ist gut, dass ihr in Hamburg und Berlin seid. Beide Städte sind der Band wichtig.«. Eine Woche später ruft uns Stephan an und verkündet, dass man das Projekt mit uns umsetzen möchte. Eine weitere Woche später sitzt Rico bereits zusammen mit Jan Müller in Berlin und bastelt an einer Vorschaltseite, die das neue Album und die anstehende Tour ankündigen soll. In 5 Monaten muss die neue Seite online sein. Die Betonung liegt auf muss, denn am 1. Mai kommt die neue Platte raus.

Das erste musikalische Fragment wird uns zugespielt. Ein Gitarren-Loop der ersten Single-Auskopplung »Prolog«, welcher im Hintergrund der Vorabversion der Seite laufen soll. Noch 4 Monate. In meiner Theorie hat die Entwicklung einer Webseite für Musiker noch vor ein paar Jahren eine weitaus größere Relevanz. Nicht zu letzt war eine Online-Präsenz so etwas wie ein virtuelles Statement einer Band, aber primärer natürlich ein ständiger Informationskanal für Fans. Die heutigen sozialen Netzwerke führen diesen Nutzen nahezu ad absurdum. Zurück im Jahr 2000 lief das so: Da guck ich doch mal online nach, ob meine Lieblingsband eine neue Scheibe angekündigt hat. Oder gar auf Tour ist. Das war Recherche-Arbeit auf gut Glück, aber umso aufregender, wenn man etwas Neues entdecken konnte. Ja, ja, ich weiß was du jetzt denkst. Stell dir mal 1994 vor, da musste man zum Kiosk im Bahnhof gehen und eine Spex kaufen. Heute kommt das alles von alleine zu einem. Gebündelt und mit der Geschwindigkeit von Laser. Noch während des Scroll-Vorgangs. Keine Recherche mehr, abwarten, es findet einen von ganz allein. Praktisch, zugegeben.

Der Zug Richtung Berlin fährt irgendetwas mit zweihundert. Mein Ausklapptisch wackelt. In der Werbung der Bahn sehen alle immer so lässig und entspannt aus beim Reisen. In den Prospekten sieht man Menschen, die Briefe in Schönschrift schreiben und ich bekomme nicht mal eine einzig grade Linie mit dem Kuli hin. Am Südkreuz muss ich immer aussteigen und ich bin ganz stolz, dass ich die Seite mit Davids technischen Hinweisen zur technischen Machbarkeit bei einem ausführlichen Gespräch am Nachmittag zumindest in der Theorie und auf dem Papier fertig gedacht habe, noch bevor die Ansage ertönt. Mal sehen was Rico dazu sagt. Abwarten, was die Band, das Label und das Management davon hält.

Ein neues Tocotronic Album beschreibt für mich persönlich seit Jahren den Anbruch einer neuen Zeit. Wow, was für ein Satz. Und wie pathetisch der klingt! Aber man weiß, dass man um die 3 Jahre gealtert sein muss. Es gibt gibt gewisse Dinge, die einem unterbewusst ein Zeitgefühl vermitteln. Wie die schreienden Kinder auf dem Heiligengeistfeld. Wenn die kreischen, sind 4 Monate rum. So einfach funktioniert meine Zeitrechnung, meine innere Uhr. In den Gesprächen mit Jan (Müller) kristallisierte sich heraus, dass das (rote) Album ein besonders wichtiges für die Band sei. Christophe Stoll von Precious hat 2009 einen interessanten Artikel, zu Zeiten von »Kapitulation« verfasst. Besser als kann man es nicht ausdrücken, was es bedeutet eine Band online zu betreuen – besser als er hätte man die Beziér-Arbeitskurve nicht ziehen können. »Für eine (große) Band zu arbeiten, bedeutet entweder länger gar nicht und dann zeitweise voll und ganz – in jedem Fall dann, wenn ein neues Album ansteht.«

»When you’re working on a band website, you have to take this into account. A strategy you can see quite often is separating a regular artist website from temporary promotional microsites supporting record releases. Sometimes it’s just news on band sites, pointing to an external URL somewhere on the label’s website. And sometimes, artist websites change radically from release to release.«Christophe Stoll, Precious

Gestalten ist eine Sache, das Programmieren und Umsetzen Selbiger eine andere. Auch der Ablauf hinter der Bühne muss reibungslos bleiben. Was wohl so eine Band braucht, die in gewissen Phasen stets unterwegs ist und wichtigeres zu tun hat, als die Pflege einer Webseite? Musiker stehen bekanntlich immer vorne auf der Bühne und haben während eines Konzertes tendenziell keine Zeit ein Live-Bild auf ihre Website zu stellen. Entscheidend ist also auch das, was nur die Wenigsten sehen. In unserem Fall ist es das Content Management System zur Pflege von Inhalten. Wir fragten uns, wie wir das wertvollen Wissen von Christophe nutzen können, um auch in zeitkritischen Phasen den Workload möglichst gering zu halten, um spontan auf Anfragen des Labels reagieren zu können. Die offenen und modulare Struktur unseres Hauseigenen CMS Bureau hat uns während der Konzept-Phase viel Arbeit abgenommen oder Dinge von ganz alleine gelöst. Statt das Internet wahllos nach irgendwelchen semi passenden Plugins zu durchkämmen, griffen wir auf unsere intelligenten Schnittstellen zurück, um die Inhalte entweder voll automatisiert oder über logische Eingabemasken einfließen zu lassen. So fragt das System in bestimmten Intervallen die Tourdatenbank oder Instagram ab und überträgt die Termine auf die Website. Da freut sich auch der Tourmanager. Sobald alle Tourtermine gespielt sind, verschwinden sie im Archiv und das Modul verschwindet automatisch von der Startseite ohne fehlerhaft wirkende Überbleibsel dastehen zu lassen und ohne, dass jemand alles wieder gerade rücken muss.

Die Einpflege des beachtlich großen Backkataloges der Band und der einzelnen Musiker wurde zum Kinderspiel und ist sicherheitshalber für weitere Veröffentlichungen ausgelegt. 3 Jahre gehen schneller rum als man denkt. Nachhaltikeit und so. Um die Videothek mit über 30 Musikvideos der Band anzulegen, reichte lediglich die Eingabe der Video-ID der jeweiligen Plattform (Youtube / Vimeo). Das war dann auch in 10 Minuten erledigt und niemand musste mit kryptischen Embedded-Codes rumhantieren. 

Das Management stellte einen Fahrplan mit fixen Daten bereit der uns über ein halbes Jahr bis zum Release half, Content- Austausch oder Ergänzung zu terminieren. So baute sich die Webseite vor und nach dem finalen Launch am 1. Mai 2015 mit jedem Single-Relase und jeder Video-Veröffentlichung immer wieder neu zusammen. 

Die Straßen sind voll mit Menschen. Zumindest in Kreuzberg und je näher wir der Oranienstraße kommen. Es ist der 1. Mai 2015. So Jung kommen wir nicht mehr zusammen. Wir stehen vor dem SO36 und warten darauf, dass irgendetwas passiert. Der Abend ist aussergewöhnlich mild. Unter freiem Himmel trinken wir warmes Bier. Nach dem Konzert gehen wir in einer lauwarmen Nacht zu Fuss nach Hause. Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Alles ist ganz klar.

Die Tocos haben wir ’96 oder ’97 beim Abends ausgehen nicht gesehen. Aus Trotz haben wir uns Trainings-Jacken gekauft. Zehn Alben später sitzt man mit Herrn Müller in Berlin, nascht Schokolade und trinkt Limo. So ist das also, nach der verloren Zeit.

Tocotronic
Essay
Jan Frederic Goltz (via Notes) 06. Mai 2020
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