Barriere / Freiheit: Die Grenzen des Internets

Ein Essay von Franca

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Alle Deutschen im Alter von 25 – 44 Jahren nutzen statistisch gesehen das Internet. Aber wir sind nicht allein: 80% der Menschen mit Behinderung, die ein Zehntel der Bevölkerung ausmachen, sind online.

Viele von ihnen behelfen sich dabei mit Bildschirmvergrößerung, Sprachausgabe oder speziellen Tastaturen. Trotzdem gibt über die Hälfte der Menschen mit Behinderung an, beim alltäglichen Surfen auf unüberwindbare Hürden zu stoßen.

Genauso wie es mittlerweile technisch ausgefeilte Rollstühle gibt, sind Aufzüge und abgesenkte Bordsteinkanten in der Stadt für motorisch eingeschränkte Menschen wichtig.

»Trotz technischer Hilfsmöglichkeiten liegt es vor allem in der Hand derer, die digitale Produkte erstellen, ob sie für alle zugänglich sind oder nicht.«

Ich persönlich profitiere sehr von Durchsagen am Bahnsteig, Untertiteln, Transkripten, Zoom-Möglichkeiten, gut lesbarer Schrift, Helligkeitseinstellungen und barrierefreien Leitsystemen im Ausland.

Barrierefreiheit ist gut für uns alle, in der realen und in der digitalen Welt.

Ü-65-Jährige machen 20% unserer Bevölkerung aus – fast zwei Drittel von ihnen surft im Web. Sehvermögen und motorische Fähigkeiten nehmen im Alter oft ab. Die Zahl der Menschen mit Behinderung als auch die Zahl der älteren Menschen steigt kontinuierlich an.

We are all just temporary abled

„Be-hinderung“ – im Sinne „von der Umwelt behindert werden“ – betrifft uns tatsächlich alle. Spätestens, wenn man nicht erkennen kann, in wie vielen Minuten die Bahn kommt, merkt man, dass man die Brille zuhause hat liegen lassen. Wir sind dann an diesem Tag temporär „sehbehindert“. Verknacksen wir uns den Knöchel, sind wir vorübergehend motorisch eingeschränkt. Behinderungen können sogar situationsbedingt auftauchen, zum Beispiel wenn wir von der Sonne geblendet werden. Dann können wir nicht wie sonst handeln – wir sind eingeschränkt.

Beziehen wir also diese Formen der Einschränkungen mit ein, können wir allen mit barrierefreien Produkten helfen: „we are all just temporary abled“.

Wie können wir als Webentwickler bzw. -designer also Barrieren abbauen, damit das Internet für alle ein Ort moderner Kommunikation und Informationsbeschaffung wird?

Makellos, zahlungskräftig, weiß? Die Frage ist, wen wir uns vorstellen.

Um im Arbeitsalltag schneller konkrete Entscheidungen fällen zu können, müssen wir einen inneren Katalog an Nutzern aufbauen. Falls wir zu dem Schluss kommen, dass auch Menschen mit Behinderung, Mindestlohn oder Migrationshintergrund als Nutzer in Frage kommen, müssen wir Websites entsprechend gestalten und entwickeln. Wen stellen wir uns also vor?

Behinderungen können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Da das Internet ein visuelles Medium ist, birgt es gerade für sehbehinderte Menschen viele Barrieren. Eine deutliche visuelle Gestaltung hilft, den Inhalt der Website besser zu erfassen. Wer blind ist, kann auf Sprachausgabe, Tastatur und Braillezeilen) zurückgreifen. Bieten wir keine Alternativen zu Bildern, Farbleitsystemen oder Videos, schließen wir viele Menschen von unseren Inhalten aus.

Für Menschen, deren motorische Beeinträchtigung die Hände betrifft, gibt es ebenfalls Hilfstechnologien: spezielle Tastaturen, Sensoren und sogar die Möglichkeit, per Augensteuerung im Web zu surfen. In der Entwicklung müssen wir deshalb darauf achten, dass die Website auch ohne Maus bedient werden kann. Außerdem sollte der klickbare Bereich von interaktiven Elementen möglichst großzügig sein.

Gehörlosen oder schwerhörigen Menschen hilft es, wenn Videos und Podcasts mit Untertiteln bzw. Transkripten versehen sind.

Kognitiv beeinträchtigten Menschen helfen eine klare Navigation, kurze Sätze und erklärende Grafiken.

Das hilft aber nicht nur Menschen mit geistigen Einschränkungen oder Leseschwäche, sondern auch all jenen, die unsere Sprache noch nicht perfekt beherrschen. Über ein Drittel der Hamburger besitzen einen Migrationshintergrund.

Wer nicht genug Geld für den neuesten Stand der Technik oder schnelles Internet hat, dem werden Websites oft fehlerhaft angezeigt. 19% der Menschen in Deutschland sind von Armut bedroht.

Was können wir konkret ändern?

Allen Bedürfnissen gerecht zu werden (unterschiedliche Formen von Behinderung, ungeübte Internetnutzer, schlechte technische Vorraussetzungen…), klingt erstmal nach einer großen Aufgabe. Wir können uns ihr jedoch Schritt für Schritt nähern.

Beim Design wie auch bei der Entwicklung einer Website können wir darauf achten, niemanden auszuschließen. Dafür müssen wir miteinander sprechen und von Anfang an die Barrierefreiheit mit einplanen.

Alternativen zu schwierigen Features wie Formularen denken wir am besten von vornherein mit. Dabei ist es sinnvoll, pragmatisch im Kleinen anzufangen, um unsere Vorgehensweise testen zu können.

Es gibt keine Zahlen, wer welche Hilfsmittel wie oft benutzt. Unsere einzige Möglichkeit ist es, eine möglichst gut bedienbare Website zu produzieren:

1. Ist das HTML sinnvoll strukturiert?

<main>
  <section>
    <h1>Überschrift</h1>
	<p>Text...</p>
  </section>
</main>

2. Sind alle Bilder mit einer Textalternative ausgestattet (Alt-Attribut)

<img src="..." alt="Foto von Erika Mustermann">

3. Stimmen Schriftart, Schriftgröße und Kontraste?

.smallest-text {
  font-size: 16px;
  color: black;
}

4. Ist ein angewähltes Element als solches erkennbar (focus style)?

5. Bei umfangreichen Websites: kann das Menü übersprungen werden (skip link?)

<a href="#content" class="skip">Menü überspringen</a>

6. Ist eine Navigation per Tabulatortaste möglich?

7. Ist die Website mit einem Screenreader navigierbar?

8. Können selbstgestaltete Buttons und Pop-ups mit einem Screenreader bedient werden?

Eine inklusive Website sollte für schwierige Bedingungen gerüstet sein, muss aber nicht in jedem Fall gleich aussehen. Bewährt hat sich die Methode Progressive Enhancement (schrittweise Erweiterung):

Zuerst legen wir eine Minimalversion der Website fest – sie funktioniert auf allen Browsern und Geräten, auch ohne JavaScript und CSS sollte alles Wichtige noch erfassbar sein.

Gibt es interaktive Elemente wie Buttons, sollten Interaktionen auch unter diesen erschwerten Bedingungen zumindest nachvollziehbare Ergebnisse herbeiführen.

Es ist sinnvoll, diese Minimalversion zuerst zu gestalten und zu entwickeln, um Tab-Navigation, Sprachausgabe und Co. schonmal testen zu können. Wenn alles klappt, kann der nächste Schritt angegangen werden: Animationen und Interaktionen können jetzt gestaltet und eingebunden werden. Dabei sollte die Website nach größeren Änderungen immer wieder erneut auf Barrierefreiheit durchgecheckt werden. Die Vorzeigevariante der Website läuft dann auf den besten Geräten mit den neuesten Browsern, ist aber trotzdem noch für jeden zugänglich.

Natürlich ist das alles mehr Arbeit, aber eine barrierefreie Website bietet ungeahnte Vorteile, die auch den Auftraggeber überzeugen: inklusive Entwicklung wirkt sich positiv auf SEO aus und die Website kann schneller und auch auf alten Browsern und Geräten geladen werden. Vor allem aber können sich jetzt viel mehr Menschen an unseren digitalen Produkten erfreuen.

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accessibility
barrierefreiheit
Franca Winter (via Notes) 04. Mai 2020
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